Warum ist die Mehrheitswahl nicht mehr zeitgemäß?
Warum kann es in Österreich sein, dass nicht die stimmenstärkste Partei den Kanzler stellt? Ist das wirklich demokratisch?
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass dies kein Einzelfall ist. Nach der Nationalratswahl 1999, bei der die ÖVP knapp hinter der FPÖ nur drittstärkste Partei geworden war, bildete Wolfgang Schüssel Anfang 2000 mit den Freiheitlichen eine Koalitionsregierung und wurde am 4. Februar 2000 als Bundeskanzler angelobt.
Nun passiert etwas Ähnliches: Die FPÖ hat die Wahl gewonnen, aber der Kanzler wird erneut von einer anderen Partei gestellt – und zwar von einer, die bei dieser Wahl Stimmen verloren hat.
Ich bin kein Freund der FPÖ, sondern ein Freund der Demokratie und der Wahlgerechtigkeit. Doch wir bekommen gerade wieder einen Kanzler, der nicht zur Wahl stand, und das von einer Partei, die in dieser Wahl geschwächt wurde. Es wurde oft das Argument gebracht – seltsamerweise erst jetzt, wo die FPÖ die Nummer eins ist –, dass „mehr als die Hälfte gegen die FPÖ“ gestimmt habe.
Das mag stimmen. Aber warum wurde dieses Argument in der Vergangenheit nie erwähnt? Habt ihr es jemals zuvor gehört?
Genau deshalb finde ich das Mehrheitswahlsystem nicht mehr zeitgemäß.
Derzeit erhalten Regierungsbildungsaufträge oft Parteien, die nicht die Mehrheit haben. Sie schließen sich möglicherweise mit kleineren Parteien zusammen, um eine Koalition zu bilden – auch wenn diese weniger Wählerstimmen erhalten haben als andere Parteien.
Das Ergebnis? Eine Regierung, die rechnerisch eine Mehrheit bildet – aber nicht den Willen der Mehrheit der Bevölkerung widerspiegelt. Statt Demokratie nach Wählerwunsch entsteht eine Koalition nach Parteitaktik.
Aber welche alternative Wahlsysteme gibt es?
Ein Beispiel aus der Arbeitswelt: Warum Mehrheitswahl problematisch ist
Wenn ich als Sicherheitsfachkraft Abstimmungen zur Umsetzung sicherer Arbeitsweisen durchführe, nutze ich entweder eine Konsensentscheidung bei Einzelabfragen oder das systemische Konsensieren bei mehreren Vorschlägen.
Beispiel: Mehrheitsentscheidung in der Praxis
Stellen wir uns vor, 25 Arbeitnehmer:innen sollen über die Vorgehensweise bei einer Absturzsicherung entscheiden.
Vorgehen:
Zunächst wird eine offene Frage formuliert.
Anschließend werden Vorschläge gesammelt.
Die Vorschläge werden zur Abstimmung gestellt.
Drei Lösungen kommen in die engere Auswahl:
PSA gegen Absturz (Persönliche Schutzausrüstung)
Fangnetz
Absturzsicherung per Geländer, das aufgrund der verschiedenen Positionen des Wohnwagens ständig neu aufgebaut werden müsste.
Das Abstimmungsergebnis könnte so aussehen:
10 Mitarbeiter entscheiden sich für Vorschlag 1.
7 Mitarbeiter für Vorschlag 2.
8 Mitarbeiter für Vorschlag 3.
Mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer müsste also mit einer Lösung arbeiten, die sie nicht gewählt haben. Das kann zu Unzufriedenheit, Regelbrüchen und ineffizienten Arbeitsprozessen führen – weil jeder nur für seine Lieblingslösung stimmen kann, statt die beste Lösung für alle zu finden.
Alternatives Wahlsystem: Systemisches Konsensieren
Beim systemischen Konsensieren läuft die Abstimmung anders. Die zentrale Frage lautet nicht „Welche Option ist meine Lieblingslösung?“, sondern:
➡️ „Mit welcher Lösung kann ich leben?“➡️ „Welche Option ist für mich ein absolutes No-Go?“
Das Ergebnis ist nicht die Lieblingslösung einzelner Gruppen, sondern eine Variante, mit der alle Beteiligten leben können.
Wie könnte das in der Politik aussehen?
Anstatt eine Partei nur mit einem Kreuz zu wählen, könnten die Wähler jede Partei auf einer Skala von 1 bis 10 bewerten:
1 Punkt: Diese Partei vertritt meine Interessen am besten.
5 Punkte: Diese Partei vertritt einen erheblichen Teil meiner Interessen.
10 Punkte: Diese Partei vertritt keine meiner Interessen.
Ein Stimmzettel könnte so aussehen:
Welche Partei vertritt ihre Intreressen am besten?
Wähler 1 | Wähler 2 | Wähler 3 | Wähler 4 | |
Partei 1 | 1 | 5 | 8 | 10 |
Partei 2 | 4 | 1 | 6 | 9 |
Partei 3 | 3 | 4 | 1 | 7 |
Partei 4 | 2 | 6 | 5 | 1 |
Auswertung: Statt nur eine Partei zu wählen, zeigt das Ergebnis, welche Partei den geringsten Widerstand in der Bevölkerung hat. Die Partei mit dem niedrigsten Gesamtwiderstand bildet die Regierung – nicht einfach diejenige, die nur von einer knappen Mehrheit bevorzugt wird.
Genau so sind auch die Parteien im Parlament vertreten: Die Stimmenstärkste Partei stellt den Bundeskanzler und bildet mit den nachfolgenden Parteien die Regierung.
Vorteile dieses Systems
Mit diesem Ansatz braucht es keine Koalitionen, in denen sich kleinere Parteien unterwerfen müssen, oder Koalitionen, die sich nur aufgrund gemeinsamer Interessen zusammenschließen und dadurch keine echten Debatten mehr führen.
Ich will eine Regierung, die Gegensätze zulässt, Diskussionen aushält und Lösungen für alle findet – statt sich in parteipolitischen Spielchen zu verlieren. Systemisches Konsensieren kann genau das ermöglichen: Eine Wahl, die den echten Willen der Bevölkerung widerspiegelt, anstatt nur Koalitionsarithmetik zu betreiben.
Fazit: Ein Wahlsystem für die Zukunft?
Das Mehrheitswahlsystem hat über Jahrzehnte funktioniert, doch es hat Schwächen. Es bildet oft nicht den echten Willen der Bevölkerung ab, sondern nur eine taktische Koalitionsmehrheit.
Systemisches Konsensieren könnte eine Lösung sein: Eine Wahlform, die nicht nur fragt, wer gewinnen soll, sondern auch, welche Lösungen für die meisten Menschen tragbar sind.
Damit könnte die Politik demokratischer, innovativer und konfliktfähiger werden – genau das, was wir in einer modernen Gesellschaft brauchen.
Schlusswort
Was denkst du? Ist das Mehrheitswahlprinzip noch zeitgemäß? Oder wäre es an der Zeit, neue Wege in der Demokratie zu gehen?
Interesse an der Sprache des Seins
Interesse am Systemischen Konsensieren
Hier ein Link dazu https://sk-prinzip.eu/
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